Digitalisierungs-Dilemma: Für die Daten arbeiten oder mit den Daten arbeiten

Clemens Hensen

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04.05.2023

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Minuten Lesezeit

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Schön, dass wir bei Ihnen mit dem Thema Digitalisierung in der Industrie auf Interesse gestoßen sind! In unserer Artikel haben wir beleuchtet, warum OPC UA leider noch nicht alle Probleme der Anlagenkonnektivität löst. Selbst wenn bereits sämtliche Anlagen mit OPC UA, MQTT und Co. ausgerüstet sind, haben wir Folgendes lernen müssen.

Übersicht Blogreihe Konnektivität & Maschinendaten:

  1. OPC UA: Segen oder Fluch für Industrie 4.0?

  2. Digitalisierungs-Dilemma: Für die Daten arbeiten oder mit den Daten arbeiten

  3. Von Euromap, Datenblöcken und harmonisierten Daten

  4. Datenharmonisierung, oder: Wie heißt mein Durchsatz?

  5. Wie Edge Devices nicht zur Sicherheitslücke werden

  6. Keine geschlossenen Systeme mehr

  7. Mit ENLYZE und Grafana bereit für alle Herausforderungen in der Produktion

  8. Der Schlüssel zu KI in der Produktion

Lektion #2: Anlagenkonnektivität ist nicht einmal die halbe Miete

Nur weil Anlagen ein Abfragen der Daten zulassen, entsteht noch kein Mehrwert für das Unternehmen. Dieser entsteht erst, wenn mit den Daten gearbeitet wird und Erkenntnisse entstehen, die zu einer Verbesserung der Unternehmensabläufe oder Produktion führen. 

Die Herausforderungen hierbei sehen wir aktuell in vier Punkten:

  1. Integration vorhandener Datenquellen von heterogenen Anlagenparks

  2. Auslesen von inkonsistenten und unstrukturierten Datenformaten

  3. Erschließen und Zusammenführen von Datensilos*

  4. Einbinden von verteilten Legacy-Softwaresystemen

*sowohl Zeitreihendaten von Sensoren als auch Buchungsdaten/Aufträge

Wir beobachten in der Industrie drei gängige Herangehensweisen, um diesen Herausforderungen zu begegnen, die wir in den nächsten Absätzen diskutieren. Abschließend stellen wir vor, wie moderne IIoT-Plattformen versuchen, die Probleme der derzeitigen Herangehensweisen zu lösen und den Weg zur Industrie 4.0 zu beschleunigen. 

🍝 Patchwork: viele Köche, keine zentrale Zuständigkeit

Die von uns als Patchwork bezeichnete Konfiguration ist die am häufigsten anzutreffende Lösung in der Industrie. Sie ähnelt einem Flickenteppich, da sie meist ungeplant entstanden und im Laufe der Zeit mit dem Maschinenpark gewachsen ist. Verschiedene Anbieter stellen Software zur Verfügung, die Daten von bestimmten Maschinen ausliest. Das sieht dann zum Beispiel bei einem Extrusionsunternehmen so aus: 

Es gibt ein System zur Materialversorgung und Überwachung von Silo-Füllständen, außerdem eine Software für den Hauptfertigungsschritt (z. B. Extrusionsanlagen) des vorherrschenden Anlagenherstellers – die jedoch nicht alle Anlagen oder alle Teile der sogenannten "Frankensteinanlagen" abdeckt. Eine zusätzliche Software ist für die Nachbearbeitung (wie Konfektion und Druck) zuständig, und einige Datenpunkte werden über ein BDE oder ein MES erfasst.

Die Vorteile dieser Lösung sind begrenzt und beschränken sich hauptsächlich darauf, dass sie derzeit funktionieren. Die Nachteile liegen deutlich in der eingeschränkten Nutzbarkeit und der Arbeit in Datensilos. Prozessingenieure, Entwickler, Planer und Controller müssten mehrere Monitore auf ihren Schreibtischen haben, als würden sie ein Atomkraftwerk überwachen, und sind hauptsächlich damit beschäftigt, Daten zwischen den Systemen per Copy-and-Paste auszutauschen. Weiterhin ist der Aufwand erheblich, um die verschiedenen Systeme am Laufen zu halten, Zulieferer zu koordinieren und Funktionen weiterzuentwickeln.

Meistens wurde die Software über Lizenzen erworben und Upgrades sind teuer und erfordern langwierige Projekte. Erforderliche Investitionen, um veraltete Systeme auf den neuesten Stand zu bringen, sind oft so hoch, dass sie für den heterogenen Anlagenpark nicht rentabel sind.

Der Service ist in der Regel langsam und jeder Anbieter konzentriert sich nur auf seine eigene Lösung, während die Interoperabilität zwischen den Systemen vernachlässigt wird. Das System ähnelt einer verworrenen, spaghettiartigen Punkt-zu-Punkt-Verbindung. Den Überblick zu behalten und die Kompatibilität bei Updates oder Anpassungen sicherzustellen, ist jedes Mal ein komplexes Unterfangen, das oft vermieden wird.

🧰 Inhouse: alles in Eigenregie

Diese Konfiguration tritt oft zusammen mit der Patchwork-Konfiguration auf, da Einzellösungen durch selbst entwickelte und verwaltete Systeme zusammengeführt werden müssen. Installationsfirmen nehmen Komponenten einmalig in Betrieb und überlassen die Wartung anschließend der Kunden-IT.

In anderen Fällen übernehmen Unternehmen die Anbindung und Vernetzung ihrer Anlagen vollständig selbst und entwickeln dafür ein eigenes System. Wenn ausreichend Ressourcen vorhanden sind, kann dieser Ansatz sehr erfolgreich sein, da das System genau auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnitten ist. Idealerweise basiert die Lösung auf passenden Technologien (Softwarestack) und wird nicht in ein bestehendes ERP-System integriert. Da ERP-Systeme für die Verarbeitung großer Mengen an Zeitreihendaten nicht geeignet sind, führt eine solche Integration oft zu einer Verschlechterung der Gesamtleistung. 

Wunschgedanke: “Einfach einen Raspberry Pi nehmen und damit Maschinendaten auslesen” 

Andererseits kann es problematisch sein, wenn die erforderlichen Ressourcen nicht vorhanden sind. Ein erster Proof-of-Concept (PoC) mag zwar schnell umsetzbar sein (häufig wird die einfachste Anlage ausgewählt) und auch der Pilotbetrieb verläuft meistens reibungslos. Allerdings wird die Komplexität des Instandhaltens und der Weiterentwicklung oft unterschätzt. Vor allem im Bereich des Datenmanagements ist der individuelle Ansatz schwierig zu skalieren. Gerätemanagement, Pufferlösungen bei Ausfällen der Internetverbindung und redundante Datenspeicherung sind Herausforderungen, die bewältigt werden müssen, sobald ein Pilotprojekt skaliert werden soll.

🪤 Walled Garden: Gefangen in einem System

Der Walled Garden-Ansatz wird hauptsächlich von Hardwareherstellern verfolgt, die ihr Geschäftsmodell durch ein Softwareangebot erweitern möchten. Dazu zählen beispielsweise Maschinen- und Steuerungshersteller. Sie bieten eine Plattform an, die ausschließlich mit ihren eigenen Maschinen oder Geräten kompatibel ist.

Dieser Ansatz orientiert sich an Lösungen wie dem App-Store von Apple, der darauf abzielt, Kunden an die eigene Marke zu binden und so den Verkauf der eigenen Hardware zu fördern. Der Erfolg solcher Plattformen zeigt, warum dieser Ansatz auch bei IIoT-Plattformen versucht wird. Allerdings scheitert die Umsetzung häufig, da die Plattform hauptsächlich darauf abzielt, einen Lock-In-Effekt zu erzeugen, was viele Unternehmen ablehnen. Oftmals erweisen sich die Lösungen der Anlagenhersteller als erweiterte HMI-Systeme (“HMI mit Verlängerungskabel”), die die Bedürfnisse und Fragestellungen der Nutzer:innen nicht optimal adressieren.

Wir sehen einen der Hauptgründe für das langsame Vorankommen von Industrie 4.0 seit 2011 in dem Versuch von etablierten Playern, solche Plattformen zu entwickeln. Statt sich auf offene Systeme zu konzentrieren, bei denen jede Integration den Wert des eigenen Produkts erhöht, folgen Anlagenbauer und einige klassische Industriesoftware-Anbieter dem gewohnten Weg, alles selbst zu entwickeln und nur für die eigenen Produkte zu konzipieren. Da Interoperabilität in diesem Modell nicht angestrebt wird, leidet letztlich der Kunde. Aufgrund dessen begegnen viele Unternehmen, mit denen wir sprechen, Digitalisierungssystemen ihrer Anlagen- oder Steuerungsbauers mit Skepsis. Man möchte sich schließlich nicht auf einen Hersteller festlegen. 

🪴 Vertikal integriert mit offenen Schnittstellen

Der vierte Ansatz beinhaltet sowohl Hardware- als auch Softwarekomponenten aus einer Hand. Im Gegensatz zum Walled Garden-Modell sind die Daten in diesem System jedoch nicht gefangen, sondern offen für andere Systeme und Anbieter zugänglich.

Um die fehlende zentrale Zuständigkeit, wie sie im Patchwork-Ansatz auftritt, zu vermeiden, ist es wichtig, eine einheitliche Lösung für einen Maschinenpark mit Anlagen verschiedener Hersteller bereitzustellen. Da keine widersprüchlichen Interessen bestehen, liegt der Fokus auf der Plattform selbst und der Integration einer möglichst großen Anzahl an Datenquellen.  Dies kann jedoch meistens nur durch eine Kombination aus Hardware und Software erreicht werden. 

Diese Systeme sind nicht nur aus Sicht der Anlagenkonnektivität herstellerunabhängig, sondern bieten auch offene, dokumentierte Schnittstellen und Integrationen in Drittsysteme für einen einfachen und zentralen Datenaustausch. Der Fokus liegt darauf, Anlagen- und Produktionsdaten strukturiert aufzuzeichnen, zugänglich zu machen und Anwender:innen zu befähigen, diese Daten in den Anwendungen ihrer Wahl zu nutzen. Zum Beispiel kann PowerBI für Reporting, Grafana für Monitoring, MS Teams für Alarme und Azure Data Lake als Datenspeicher eingesetzt werden. Statt sich mit einer unzureichenden All-in-One-Lösung zufrieden zu geben, wählen die Anwender:innen das beste Werkzeug für ihre jeweilige Aufgabe.

Fazit

Der Patchwork-Ansatz ist weitverbreitet, aber oft nicht effizient. Inhouse-Lösungen können erfolgreich sein, wenn genügend interne IT-Ressourcen vorhanden sind, aber die Komplexität wird oft unterschätzt. Walled Garden-Modelle schaffen Abhängigkeiten von einem einzigen Hersteller, während vertikal integrierte Lösungen mit offenen Schnittstellen den besten Kompromiss bieten.

Jedes Unternehmen muss Expertise im Bereich der Digitalisierung und dem Arbeiten mit Daten aufbauen, um zukünftig wettbewerbsfähig zu bleiben und qualifizierte Mitarbeiter:innen zu gewinnen. Die Frage, in welchen Bereichen man Kompetenzen aufbaut, ist hierbei entscheidend.

Unserer Meinung nach sollte der Schwerpunkt möglichst nahe an der eigenen Wertschöpfung liegen. Für produzierende Unternehmen sollte der Fokus auf der Auswertung von Prozessdaten liegen und dort Expertise aufgebaut werden. Die Prozessexpert:innen sind bereits im Unternehmen vorhanden. Wenn sie in die Lage versetzt werden, datenbasiert den Prozess zu optimieren, wird der wahre ROI eines Digitalisierungsprojekts erreicht. 

Oder anders ausgedrückt: Eine Anomalieerkennung auf Grundlage Ihrer tiefen Prozesskenntnis zu entwickeln ist wichtiger, als skalierbare Datenpipelines zu bauen, die  tausende Datenpunkte pro Sekunde in Datenbanken schreiben. Denn: Mit Daten arbeiten, stiftet Wert für das Unternehmen – für Daten arbeiten ist nur ein Mittel zum Zweck.

An dieser Stelle möchten wir uns für Ihre erneute Aufmerksamkeit bedanken! Wie auch beim ersten Artikel gilt: Falls Sie nach dem Lesen Fragen haben oder Feedback geben möchten, können sich gerne bei uns unter hello@enlyze.com melden. Wir freuen uns, von Ihnen zu hören.